ASB-Jahrbuch 2020

Manu findet ihren Baum Es gibt letzte Wünsche, die lassen erst einmal schwer schlucken. So wie der von Manu*. Die schwerst- kranke Mittdreißigerin hatte sich an das niedersächsi- sche Wünschewagen-Team gewandt, weil sie mit ih- ren Kindern vom Hospiz aus in den Friedwald fahren wollte, um gemeinsam einen Baum auszusuchen, un- ter dem ihre Asche verstreut werden sollte. Die beiden Wunscherfüller*innen Jella und Maik erinnern sich, wie sie sich nach Ostniedersachsen aufmachten, um die junge Mutter an ihren Sehnsuchtsort zu begleiten, den Fried- wald Cremlinger Horn. „Als wir das Hospizzimmer betraten, war die Aufre- gung schon greifbar. Die Familie saß gespannt in Hut und Mantel bereit und war voller Vorfreude. Am liebs- ten wäre Manu direkt aus dem Bett gesprungen und los- gelaufen. Aber ihre Querschnittslähmung hinderte sie daran. Also ganz schnell auf die Trage und auf in den Friedwald. Manu hatte sich gewünscht, während der Fahrt ,Enjoy the Silence‘ von Depeche Mode zu hören. Eine Band, die sie kurz nach ihrer Erstdiagnose noch live gesehen hatte und deren Song auch auf ihrer Beerdi- gung gespielt werden soll. Viereinhalb Minuten lang herrschten Stille und eine At- mosphäre friedlicher Andacht. Es waren die einzigen Minuten der Wunschfahrt, die sich tatsächlich nach dem Ziel anfühlten, zu dem wir unterwegs waren. Denn die Gespräche, die folgten, und die Freude, Ener- gie und Stärke, die von Manu ausgingen, prägten den Rest dieser außergewöhnlichen Wunschfahrt. Obwohl Manu todkrank war, lachten wir viel. In vielen Momen- ten fühlte es sich an wie ein normaler Waldspaziergang mit Familie. Aus der Ferne war es kaum zu erahnen, dass die Kinder gerade auf der Suche nach einem Ge- denkbaum für ihre Mutter waren. Beeindruckend schnell – so schnell, dass wir mit der Rolltrage kaum hinterher- kamen – wurden die beiden fündig: eine junge Hainbu- che! Das Bäumchen mit den zwei Verzweigungen wirkte wie maßgeschneidert, passend zum Leben von Manu: ein zäher, witterungsbeständiger, junger Baum, an des- sen Fuß das Moos schon leicht zu nagen begann. Alle waren zufrieden, obwohl die Situation so unfassbar tra- gisch war. Dorothee Borkam, die Friedwald-Besitzerin, entfernte die rote Plakette, die den Baum als verfügbar kennzeichnete. Damit war klar: Das hier wird Manus Hainbuche. Später nahm Manu einen Teil des Waldes mit ins Hospiz: einen Setzling. Auf dem Rückweg wünschte sich die Familie ein Eis. Also hielten wir mit dem Wünschewagen beim Eiscafé Venezia in Lehre, holten eine Runde Eis für alle und ver- putzten es direkt im Wagen. Ein Moment unbeschwerten Zusammenseins. Manu verabschiedete uns mit den Wor- ten: ,Man sieht sich immer zweimal. Und wenn es auch drüben sein sollte.‘ Fünf Tage nach ihrer letzten Reise schlief Manu im Hospiz friedlich ein.“ *Name von der Redaktion geändert 3 ASB-Jahrbuch 2020 51

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