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Später kommt Betzners Schwes-

ter vorbei und schiebt die Patientin

durch die Flure des Pflegeheims in

den Gemeinschaftsbereich. Heute

können die Bewohner der Station an

der Musiktherapie teilnehmen.

Musik weckt Emotionen

Axel Bayer hat für den Besuch imASB-

Pflegezentrum all seine Instrumente

eingepackt. Trommeln, Rasseln und

Klangstäbe legt er den Patienten auf

den Schoß oder stellt sie in direkter

Nähe auf. Dann greift der Musikthe-

rapeut zur Gitarre und heißt alle Teil-

nehmer singend willkommen. Fast

alle Patienten öffnen ihre Augen. Ei-

nige kauen oder bewegen die Lippen.

Die Stimmung im Raum ändert sich.

Eine junge Frau kann den Arm ein

wenig heben und bringt die neben

ihr stehenden Chimes zum Klingen.

Ein breites Lächeln ist immer wieder

auf dem Gesicht der Patientin zu se-

hen, wenn sie den hellen Klängen

des Instruments lauscht.

„Es kommt auch mal vor, dass eine

Träne verdrückt wird, weil ich das

richtige oder falsche Lied gewählt

habe“, erzählt der Musiktherapeut.

„Aber wenn eins Trauer auslöst, dann

bringt das nächste Lied oft schon

wieder eine andere Stimmung“. Wie

Philipp Stiller muss auch Axel Bay-

er ganz genau auf die Details achten,

um die Wirkung seiner Arbeit zu be-

merken. „Eine Patientin saß mehre-

re Wochen lang immer bei mir in

der Musikstunde. Beim vierten oder

fünften Mal hat dann plötzlich der

Fuß gewippt.“

Dass Patienten Fortschritte machen,

erleben die ASB-Mitarbeiter hier im-

mer wieder. „Meist halten die sich

aber in engen Grenzen“, weiß Sta-

tionsleiter Reinhold Moos. „Nach

dem Wachkoma definieren wir sie-

ben mögliche Rückbildungsstufen.

Im Idealfall kann der Patient wie-

der essen, gehen und arbeiten“, er-

klärt er. „Eine komplette Rückbil-

dung grenzt aber an ein Wunder.“

Auf der Wachkomastation, die es seit

1998 gibt, gab es bis heute erst einen

Fall, bei dem ein Mann wieder seine

Arme bewegen und sprechen konn-

te. „Inzwischen weiß man, dass sich

ein Gehirn von Schädigungen erho-

len kann“, weiß Moos. Nur wie das

funktioniert, weiß keiner.

Ein ganzes Leben verwalten

In der Musiktherapie sitzen auch

Alexander Adolph und seine Schwä-

gerin Gabriela Raiser. Mehrere Male

in der Woche besucht die 38-Jähri-

ge den Bruder ihres Mannes, der seit

seinem Herzstillstand vor eineinhalb

Jahren im Wachkoma liegt. „Wir wa-

ren uns nie sehr nah“, sagt sie rück-

blickend. „Jetzt, als Wachkomapati-

enten, kenne ich ihn viel besser.“

Raiser ist vom Gericht als Betreue-

rin eingesetzt worden. Das macht

sie, weil sie besser mit der Situation

umgehen kann als der Bruder oder

die Eltern des Patienten, die den Zu-

stand des Sohnes nicht verkraftet ha-

ben. „Im ersten Jahr war das ein Rie-

senbatzen an Arbeit, auch jetzt be-

komme ich noch bis zu zehn Briefe

jede Woche, die ich beantworten

muss“, erzählt sie. Ihren Schwager

auf der Wachkomastation des ASB in

guten Händen zu wissen, ist Raiser

eine große Stütze.

Die Wachkomastation ist ein Ort vol-

ler menschlicher Schicksale, die den

Besucher zweifeln lassen, ob man

sein Leben ausreichend wertschätzt.

Gleichzeitig ist dies ein Ort voller

Lichtblicke. Jedes Familienmitglied,

das zu Besuch kommt, um dem An-

gehörigen vorzulesen, sich mit ihm

für eine Weile draußen in die Son-

ne zu setzen oder ihm die Haare aus

dem Gesicht zu streichen, ist ein sol-

cher Lichtblick. Und jeder der ASB-

Mitarbeiter, die sich unermüdlich

für Menschen einsetzen, die es ih-

nen wohl nie danken werden, weil

sie es nicht können.

.

Text: Verena Bongartz

Fotos: ASB/B. Bechtloff

ASB MAGAZIN

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„Ich habe richtig gespürt, wie sein Arm beim Trommeln mitgegangen ist“, berichtet Gabriela

Raiser. Gemeinsam mit ihrem Schwager nimmt sie heute an der Musiktherapie teil.